Löscht eure Dating-Apps und guckt diesen Film

Großes Spiegelneuronen-Kino von Hans Weingartner: Das Roadmovie „303“ plädiert dafür, in der Liebe auf die Bremse zu treten. Und erklärt noch weitere Probleme unserer Gesellschaft.

„Hast du was dagegen Landstraße zu fahren?“ fragt Jule relativ am Anfang des Films „303“. „Ich hab‘s nicht eilig“, antwortet der Tramper, den sie gerade aufgelesen hat. Zwei Stunden und vier Minuten muss sich der Zuschauer insgesamt gedulden, bis es endlich zum wohl erlösendsten Kuss der deutschen Filmgeschichte kommt.

Ist es noch Liebe, wenn man es erklären kann?

Bis dahin wird nur geredet, und zwar über Liebe und die Welt. Liebe rückt an die Stelle von Gott, ein Phänomen, an das man entweder glaubt oder nicht. Dessen Existenz in Frage gestellt wird, gerade weil man es wissenschaftlich erklären kann. Was ist schon Romantik, wenn selbst der erste Kuss nur ein Gen-Check ist, mit dem man die Pheromone des anderen testet? Andererseits, Gegenfrage: Wie lässt es sich erklären, dass die drei Sekunden vor dem Kuss die magischsten sind?

„Seien wir mal ehrlich, sobald der Sex ins Spiel kommt, wird es langweilig“, findet Regisseur Hans Weingartner im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. Weingartner hat die Reise selbst gemacht, die wir jetzt in „303“ sehen. Den Film über die Liebe mit angezogener Handbremse hatte er 2003 schon in Angriff genommen – und dann aufgegeben. Stattdessen drehte er „Die fetten Jahre sind vorbei“ mit Daniel Brühl und Julia Jentsch, seinen wohl berühmtesten Film.

Nicht immer einer Meinung, aber im selben Bus (©AlamodeFilm)

Der Unterschied zwischen Jan und Jule aus „Die fetten Jahre sind vorbei“ und Jan und Jule aus „303“ ist ein sehr aktueller: Während die einen Aktivisten waren, die ein klares Feindbild hatten – die Bonzen, die Reichen – suchen Jan und Jule in „303“ die Ursachen für die Ungerechtigkeiten der Welt in ihrer eigenen Natur. Und finden keine eindeutige Antwort. Ist der Mensch gut oder böse? Kommt auf die Erfahrungen an, die er gemacht hat. Was ist schlauer, Haltung oder strategisches Denken? Kommt auf das Ziel an, das man verfolgt. Was entspricht dem Menschen eher, Konkurrenz oder Kooperation? Beides. Das ist vielleicht die wichtigste Erkenntnis aus diesem Film: Es gibt kein Schwarz oder Weiß – eine Erkenntnis, die der aktuellen Debattenkultur sehr gut tun könnte.

Im Interview wird weiter diskutiert

Alle Themen, die im Film vorkommen, würden ihre Generation beschäftigen, versichern mir die beiden Hauptdarsteller Mala Emde und Anton Spieker, als wir uns zum Interview treffen. Wer es für unrealistisch hält, dass sich junge Menschen so reflektiert über die Welt, den Kapitalismus und die Liebe unterhalten, wird von den beiden eines besseren belehrt: Ihnen sind die Interviews am liebsten, in denen sie die Themen weiterdiskutieren können.

Der Bogen vom Kapitalismus zur Liebe ist dabei gar nicht mal so groß, erklärt Anton Spieker. Weil die Suche nach dem nächsten Coup auch nicht vor unseren Schlafzimmern halt macht: „Es gibt Apps, die zeigen dir prozentual an, wie gut du mit jemanden zusammenpasst. Als seien Beziehungen ein mathematischer Algorithmus. Es gibt ein Stück von Rene Pollesch, da heißt es: ‚Ich liebe dich, aber du bist so wenig Möglichkeiten‘. Weil es jetzt auch in der Liebe darum geht: Was kann ich daraus ziehen, was habe ich davon?“

Den Druck rausnehmen

Mala, die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gerade einmal 19 Jahre alt war, ist vor allem genervt vom ewigen Klischee der „Generation Beziehungsunfähig“. Und sieht in den Datingapps ein Hilfsmittel, das wir eigentlich nicht brauchen: „Das ist so ein Irrglaube! Alle Menschen sind fähig sich zu verlieben, das passiert einfach irgendwann. Wir müssen den Druck rausnehmen!“

Jan und Jule 2.0 in "303" (©AlamodeFilm)

Den Druck rausnehmen. Es einmal nicht eilig haben – wenigstens in der Liebe. Jule und Jan machen es vor und lassen sich dabei so viel Zeit, dass sich sogar der Zuschauer mitverliebt. Weil „303“ eben nicht die Liebe auf den ersten Blick zeigt, keinen Gefühls-Knall, keine Hollywood-Inszenierung, mit Drama und Feuerwerk. Was sich hier entspinnt ist das genaue Gegenteil, nämlich die Geschichte einer Freundschaft, die durch steigende Vertrautheit zu echter Liebe wird – weil sie die Landstraße und eben nicht die Autobahn genommen hat.

Angekommen? (©AlamodeFilm)

Bild: Alamode Film

Text: Antonie Haenel

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