Mehr als Nils Frahm: Das Label Erased Tapes, das auch den umjubelten Pianisten beheimatet, hat im majestätischen Funkhaus sein zehnjähriges Bestehen gefeiert. Rückblick auf ein perfekt durchkomponiertes Festival, bei dem zwischen Klassik und Techno nur ein Tagtraum lag.
Ausgerechnet der Star des Labels stand an diesem Abend gar nicht auf dem Programm: Nils Frahm, dessen neues Album „All Melody“ gerade erschienen war, hatte die vorhergegangen vier Tage im ausverkauften Funkhaus gespielt. Umso merkwürdiger, dass das Ein-Tages-Festival am 27. Januar von Erased Tapes nicht ausverkauft war. Aber gut, Frahm hatte den Hype damit abgeschöpft, jetzt konnten seine Kollegen einem sehr offenen Publikum die Vielfältigkeit des Labels unter Beweis stellen.
Der Rahmen dafür hätte mit dem Funkhaus nicht besser gewählt werden können: Im majestätischen DDR-Soundpalast muss die Zeit draußen bleiben, es regieren Raum und Klang. Die Stimmung ähnelte dem Ruhebereich eines Spas. Die Menschen, gestreichelt, umarmt und aufgefangen von der Musik, wandelten so tiefenentspannt und beseelt durch die Räumlichkeiten, als würden sie gerade nach einem Aufguss aus der Sauna torkeln. Nicht nur während der Konzerte herrschte respektvolle Ruhe, sodass Labelgründer Robert Raths in einer Anmoderation anerkennend meinte: „Ihr seid so ein tolles Publikum, man kann sich sogar auf dem Klo beim Pinkeln zuhören.“
Anne Müller: Mit dem Bogen in die Wunde
So lagen und saßen die Gäste im Saal 1 von Anfang an auf dem Boden und sanken zu Lubomyr Melnyk in das Parkett wie einst Ewan McGregor zu Lou Reed in „Trainspotting“. Lubomyr spielte Klavierkompositionen mit Gedichteinlagen eines Londoner Poeten, wobei der 69-Jährige mit Bierbauch, Cordhose und Weihnachtsmannbart so herrlich unprätentiös aussah, dass die U8 vor ihm knien würde. Danach legte Anne Müller den Cello-Bogen tief in die Wunde. Es wurde kollektiv geweint und gegänsehautet und fühlte sich mitunter an, als würde sie die Rückenschmerzen der Seele mit ordentlich Druck auf die Schmerzpunkte mindern. Heilung durch Offenlegung.
In der Pause gab es im Foyer Rauch und Wein zwischen Monstera-Pflanzen, Marmorsäulen und holz-vertäfelter Bar. Schöner wird’s nicht. Nach den Seelenklängen spielte das Penguin Cafe mit Covern von DJ Shadow bis Simian Mobile Disco im Klassik-Gewand, während die Gäste die Augen langsam aufschlugen und ihre Tagträume über die Walzen an der hohen Decke rollen ließen.
Je später der Abend desto elektronischer die Musik
Die nächste Steigerung boten Daniel Brandt & The Eternal Something, die mit Schlagzeug, Posaune und Becken-Gewitter zwischen Freejazz und Progressive Rock die Genre-Grenzen endgültig sprengten. Das Finale mündete schließlich im energetischen Techno-Auftritt von Rival Consoles, der ganz ohne klassisches Instrument, dafür inmitten seiner elektronischen Gerätschaften und dem dazugehörigen Kabelsalat im Orchestergraben die Gäste endgültig aus der Gefühlshypnose befreite. Die sprangen nach und nach auf, tanzten und jubelten und verwandelten den Saal mit Visuals vom Labelchef persönlich, zum schönsten Techno-Club Berlins.
Fotos: Patricia Haas
Text: Antonie Haenel