Seit 2014 sammel ich im Club Geschichten. Das ist meistens witzig, oft skurril, manchmal langweilig, selten gruselig. Die Geschichte hinter den Zigarettengeschichten habe ich für „Mit Vergnügen Berlin“ aufgeschrieben.
In einem Berliner Club eine volle Zigarettenschachtel hervorzukramen hat oft denselben Effekt, wie auf einem Kinderspielplatz im Prenzlauer Berg irgendwas mit echtem Zucker anzubieten: Die Aufmerksamkeit ist dir gewiss. Vor allem Sonntag oder Montag, wenn die meisten nur noch auf dem Zahnfleisch tanzen, das komplette Partyguthaben über die Bar gewandert ist und auch der letzte Tabakkrümel in einem Joint verarbeitet wurde, dann ist so eine Filterzigarette im Club pures Gold wert.
Um diese Zeit stehe ich gerne neben der Tanzfläche, zücke mit einem gewinnenden Lächeln die Zigarettenschachtel und halte sie demonstrativ in die Menge, während ich nach Feuer suche und auf die Schnorrer warte. Denn ich teile gerne – vor allem, seit ich die Leute im Gegenzug um eine Geschichte bitte.
„Ich bin heute Morgen völlig druff aus dem Club raus und hab mein Auto ’nem Ostfriesen verkauft.“
Die Idee kam ursprünglich von einem Freund, bei dem ich mich in einer langen Clubnacht beschwerte, dass ich schon meine halbe Schachtel verschenkt hatte. „Ja, kenn ich“, sagte er. „Ich frag dann immer nach einer lustigen Geschichte aus ihrem Leben.“ Was für eine Idee, ich war sofort Feuer und Flamme! Noch in derselben Nacht startete ich (mit seiner Erlaubnis) die Zigarettengeschichten-Sammlung, die sich nun auf einem Tumblr-Blog und einer Facebook-Seite verfolgen lässt.
„Meine Freundin saß bei ihrem One-Night-Stand auf dem Klo, hatte aber so viel gekifft, dass sie einfach in Ohnmacht gefallen ist. Irgendwann ist sie wieder aufgewacht und hatte überall in den Haaren irgendwelche Krümel. Dann ist ihr klar geworden, dass sie voll kopfüber ins Katzenklo gefallen ist.“
Den Anspruch, dass die Geschichte lustig sein muss, habe ich schnell fallen gelassen – die meisten fühlten sich dadurch so unter Druck gesetzt, dass ihnen gar nichts mehr einfällt. Mittlerweile frage ich nach einer „guten“ Geschichte aus ihrem Leben und gebe den oft belustigten, manchmal aber auch überforderten Menschen noch ein paar Stichpunkte zur Hilfe: lustig, traurig, gruselig, romantisch? Und siehe da: Die gelöste Stimmung im Club und die Tatsache, dass so eine kurze „Haste mal ne Kippe“-Kontaktaufnahme doch relativ anonym ausfällt, lässt die Leute redselig werden.
„Wenn ’ne Freundin von mir im Club aufs Klo muss, dann hockt sie sich immer mit den Füßen auf die Klobrille. Letztens war sie aber so betrunken, dass ihre Schuhe auf der Brille weggerutscht sind. Sie ist also mit den Füßen nach vorne gerutscht, mit dem nackten Arsch in der siffigen Kloschüssel gelandet und hat dabei noch mit ihren Füßen die Tür aufgestoßen. Natürlich stand da ’ne ganze Schlange von Leuten…“
Ich mache das jetzt seit 2014 und habe schon einiges gehört. Vielen Menschen – liegt vermutlich am Umfeld – fallen in den Momenten Drogenerfahrungen ein. Andere, das sind mir die liebsten, erzählen eine Geschichte, die sie schon oft erzählt haben, einfach weil sie so gut ist.
„Ich mit 17 Jahren, auf meinem ersten Sonne-Mond-Sterne-Festival. Sven Väth legt auf, Mainstage. Irgendwann zeigt Sven Väth auf mich, die Securities holen mich auf die Bühne und Sven Väth fragt mich: ‚Hey, wie heißt‘n du?‘ Und ich so: ‚Steffi – und du?'“
Wieder andere hauen plötzlich so extreme Storys heraus, dass man gar nicht weiß, wie man darauf reagieren soll. Oft entsteht daraus aber auch noch ein langes, interessantes Gespräch.
„Mein Kumpel hatte mal Stress mit so ein paar Typen und ich bin dazwischen gegangen und hab so eine mitbekommen, dass ich mit dem Kopf auf ein Stahlrohr gefallen bin. Als nächstes bin ich auf der Intensivstation aufgewacht und hatte mein Gedächtnis verloren. Das gesamte letzte Jahr war einfach weg. Ich hab sogar meine Ex-Freundin angerufen, weil ich dachte, wir wären noch zusammen.“
Einer erzählte mir auch völlig unvermittelt, dass er gerade aus dem Gefängnis kommt – er hat vier Jahre gesessen und das war sein erstes Mal Feiern. Und dann gab es noch diesen einen Typen, nach dessen Geschichte ich die Party verlassen habe:
„Ich verstehe mich überhaupt nicht gut mit meiner Mitbewohnerin. Sie ist ein Arschloch. Jetzt ist sie im Urlaub. Und ich habe in ihrem Bett einen Obdachlosen gefickt.“
Aber keine Angst. Die meisten Leute sind im Club doch eher in der Stimmung, sich an die schönen Dinge in ihrem Leben zu erinnern. Zum Beispiel, wie sie mal vor Lachen in Ohnmacht gefallen sind. (Woraufhin wir so lachen mussten, dass es fast wieder passiert wäre.) Oder solche herzerwärmenden Storys:
„Ich kam mal aus dem Gate und bin durch einen Park gelaufen und da standen lauter Wohnwagen. Und dann hab ich einen gekauft und noch am selben Tag ein paar Hippies geschenkt. Ich glaube, die wohnen da immer noch drin.“
Auch wenn der Kippe-gegen-Geschichte-Deal oft lustig und spannend ist, das „Berufsrisiko“ ist hoch: Meistens endet die Aktion in einer nicht besonders aufregenden Geschichte ohne Pointe, dafür mit halbstündiger Einleitung. Aber ich entwickle das System bereits weiter, hin zu einer Art Geschichten-Lotterie: Demnächst werde ich kleine Stichpunkte oder kurze Fragen auf die Zigaretten schreiben, die die Leute hoffentlich noch mehr inspirieren. Manchmal gehören auch Kaugummis zu meinem „Sortiment“, damit auch die Nicht-Raucher mitmachen können. Funktioniert dann auch in Kombination, falls die erste Geschichte noch nicht so gut war …
Dieser Artikel ist zuerst auf Mit Vergnügen erschienen.
Text: Antonie Haenel
Foto: Maximiliane Wittek