Tanz auf dem Vulkan: Ein Festival auf Island

Es ist kalt, nass, windig und ganz bestimmt nicht leicht, im Oktober Tourist auf Island zu sein – aber es lohnt sich. Denn dann verwandelt sich ganz Reykjavik in ein einziges Festivalgelände und es gibt gleichermaßen Musik wie Natur zu entdecken.

Bildhübsche Frauen in unförmigen Kleidern, mit knallroten Lippen und kunstvoll geflochtenen Zöpfe. Männer in roten Samt-Sakkos mit synthetisch geglätteten Haaren, spitzen Lackschühchen, Fliege und einer Dandyhaltung, die Oscar Wilde stolz gemacht hätte. So darf man sich das außerordentliche Erscheinungsbild der jungen Wilden an einem Oktober-Abend vorstellen – in Reykjavik.

Iceland Airwaves Festival – das bedeutet eine Woche lang kreuz und quer durch die kleine, kalte Hauptstadt Islands rennen, sich mit kompetenter Musik jenseits der Mainstreet beschallen und von schönen Menschen beeindrucken lassen. Neben vielen Isländern und einigen Musik- und Island-Fans aus aller Welt besteht das Airwaves-Publikum zum größten Teil aus abenteuerlustigen Musikjournalisten. Sie haben eine Mission: Die Bands finden, die im nächsten Jahr einen Begeisterungs-Kollaps in den Musik-Redaktionen auslösen werden. Das bedeutet Arbeit. Schließlich kennt man 80 Prozent der Bands überhaupt nicht, wiederum 60 Prozent von ihnen kann man nicht mal aussprechen, siehe „Árstíðir“ oder „Morðingjarnir“. Aber die Suche nach dem Hype von morgen lohnt sich. Und ist unterhaltsamer als Fußball-Tippen.

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Die ganze Stadt ein Festival

Reykjavik lernt man auf dem Airwaves gezwungenermaßen schnell kennen, schließlich ist die ganze Stadt das Festivalgelände: Die Bands spielen meist zwei bis drei Mal, tagsüber auf improvisierten Bühnen in Off-Locations wie Buch- oder Plattenläden, beim Frisör oder im Cafe. In jedem Raum kann hier jederzeit ein Konzert oder DJ-Set starten – als wäre allgegenwärtige Live-Musik in höchster Qualität das Normalste der Welt.

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Nachts wird es professioneller – doch selbst die großen Locations haben nichts von den furchtbaren Mehrzweckhallen, in denen bei uns berühmte Künstler auftreten. Sie sind verschlungen, verschachtelt oder zweistöckig, sehen so anmutig wie eine Kirche, gemütlich wie ein Kino und chic wie das P1 aus. Neben Kirche, Versammlungsraum und Museum gibt es auch traditionelle Räume, in denen sonst Politik oder Volks-Diskussionen stattfinden. So zum Beispiel das Idno, Islands ältestes Theater: Es ist ein bisschen wie ein sehr schönes Wohnzimmer im Stil eines luxuriösen Landhauses gehalten, mit Dielen, Stuck, Parkettboden, Vorhängen. Beim Airwaves verwandelt es sich in ein Kopfkino. Dann sitzen die Zuhörer im Schneidersitz auf dem Parkettboden und lauschen: Zum Beispiel den auf Bass schwebenden Alpträumen von Tim Hecker, Òlafur Arnalds und seinem bezaubernden Streichquartett oder Ben Frost, der eingerostete Roboter in ohrenbetäubender Laustärke über das Parkett stampfen lässt. Im NASA geht es wilder zu. Hier spielen die Party-Bands, die bekannten Acts und elektronischen DJ-Sets.

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Die Probleme der Touris

Zum Airwaves treffen sich die Isländer wie hierzulande die Cliquen zu Weihnachten wieder. Man merkt schon beim Eröffnungskonzert, dass das Volk die Party nicht mehr erwarten kann, dass sich die Energien angestaut haben wie im Eyjafjallajökul, dass das hier ein Highlight für die naturgemäß ausgegrenzten Isländer ist. Doch wie der Hase in Island läuft, das wissen nur die Isländer – und sie halten das Partyzepter fest in der Hand. Die Touris haben genug mit dem rauen Wetter, der Organisation mit dem Timetable, dem Gedrängel in den überfüllten Clubs und nicht zuletzt mit dem Bestaunen der überdurchschnittlich schönen Isländer_innen zu tun. Daran muss man sich erst mal gewöhnen. Während die Touristen also staunen, anstehen und frieren, sitzt im NASA ein Isländer Mitte zwanzig mit wilden Locken, Vollbart – und strickt.

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Wofür die Musik Islands steht, ist seit Sigur Rós bekannt: die wunderliche Natur. Wer schon mal da ist, sollte sich nicht auf Musiktourismus und Shopping beschränken. Das Paket mit Festivalkarte, Hotel und Flug, das zum Festival von der isländischen Fluglinie Icelandair angeboten wird, ermöglicht auch, selbst zu sehen, wovon die Musik schwärmt: Nordlichter, Wasserfälle, heiße Quellen, Landschaften, wie von einem anderen Stern. So wurden wir mitten im Niemandsland von einem perfekten Regenbogen überrascht, sahen Geysire speien, wanderten durch die Kontinentalspalte oder bestaunten einen See in einem toten Vulkan. Natur, die für jede Postkarte zu kitschig wäre. Ein besonderes Highlight auf diesem Trip ist außerdem die Hang Over Party in der Blauen Lagune – wenn man mit einem Bier im milchigen Wasser des Thermalbads liegt und einer isländischen Band lauscht, treffen sich Musik und Natur wieder.

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12 Tónar – eine Institution

Die Nachmittage, die man nicht verschläft oder in der Wildnis verbringt, sollte man dem Plattenladen 12 Tónar spenden. Die Beratung ist immer ein Highlight: „I like Björk“ – „Try this!“. Und schon ist man um fünf Lieblings-Bands reicher. Probe gehört wird ganz gemütlich im Ohren-Sessel, über Ghetto-Blaster mit Kopfhörer, den Espresso gibt’s kostenlos dazu. Die CDs stellen die Bands hier teilweise selbst in die Regale – manchmal nur in Alufolie verpackt und kostenlos. Die Isländer sind eben ein unvergleichlich kreatives Völkchen, hier gibt es mehr Bands als Familien, wie zahlreiche Dokumentationen und Bücher belegen. Irgendwo zwischen der neuen Ben Frost, einer CD ohne Titel und einigen Empfehlungen des netten Herrn Plattenladenbesitzers kommen dann auch schon Norá zum Aufbau. Mitten im Plattenladen wird der Tisch zur Seite geschoben und schon ist das Festival wieder eröffnet. Ja, man kann sich hier schon von der Musik verfolgt fühlen.

Fotocredit: Antonie Hänel / Rúnar Sigurður Sigurjónsson

Text: Antonie Hänel

Veröffentlicht bei Vodafone live

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